Bald ist Cyber Monday und darauf Black Friday und während ich so durch die Straßen Stockholms schlendere, fällt mir nicht zum ersten Mal eine unangenehme Tatsache ins Auge, die in mir- wie jedes Mal- ein Gefühl von Unverständnis auslöst. Und ich muss, wie so oft, an einen ironischen, aber doch ernst angehauchten und im Endeffekt sehr philosophischen Satz meines Vaters denken, den er mal bezüglich des Fliegens mit Flugzeugen geäußert hat:
“Das kann ja eigentlich gar nicht funktionieren.”
Was er damit ausdrücken wollte, ist ganz klar: Es ist ein kleines Wunder, dass sich so ein riesiger Vogel aus Metall, besetzt mit hunderten Menschen, mit einer Wahnsinnsgeschwindigkeit durch die Lüfte bewegen kann. Und selbst, wenn du Flugzeugtechniker bist, oder gar der Wissenschaftler, der Flugzeuge erfunden hat, selbst, wenn du den totalen Durchblick hast, und jede mathematische Formel, die eines dieser Riesengeräte wie Magie in der Luft hält durchschaust, bleibt noch immer ein Fünkchen Staunen in dir. Das ist das Fünkchen Magie, das der menschliche Verstand uns lässt.
Ich denke also an diesen Satz und an Flugzeuge, meine aber etwas ganz anderes …
Ich lasse den Blick die Straße hinauf- und hinunterschweifen, dann beginne ich zu zählen. Was ich zähle? Die Geschäfte.
In dieser Straße sind es 34. Etwa 70% der Geschäfte sind Kleidungsshops, der Rest ist auf Kosmetik, Restaurants und Bars und Elektronik aufgeteilt. Ich befinde mich im Zentrum der Stadt, hier gibt es alles, und alles im Überfluss. Und ich stehe hier nur in einer einzigen Straße dieser riesigen Stadt, und kann mir nicht vorstellen, wie all das hier funktionieren soll.
Wie kann ein Mensch, in seinem gesamten Leben, jemals auch nur halb so viel brauchen, wie hier angeboten wird?
Schon diese einzige Straße macht mich kopfschütteln. Und dann schweben meine Gedanken weiter, in die nächste Seitenstraße und sehen deren Läden, sie spinnen ein Netz der Straßen dieser Stadt und versuchen meinem Gehirn zu helfen, sich vorzustellen, was Kapitalismus bedeutet. Ich merke dabei gar nicht, wie kalt es ist. Ich versuche zu begreifen, wie unser System funktioniert, was der Sinn hinter Besitz und immer mehr Besitz, hinter einer Ausbildung mit möglichst guter Aussicht auf viel Geld ist. Ich versuche zu verstehen, was die raison d’être all dieser Geschäfte ist.
raison d’être, la Beschreibt den Lebenssinn eines Menschen oder auch die Daseinsberechtigung einer Sache. “Das Schreiben ist meine raison d’être.”
Aber es geht nicht. Ich muss zu dem Schluss kommen, dass ich mir nicht vorstellen kann, was Kapitalismus bedeutet. Ich kann nicht begreifen, was der Sinn hinter unserem System ist. Ich verstehe die Daseinsberechtigung dieser Straßen voller Geld in Form von Waren nicht.
Wir leben in einem Überfluss, der keinen Sinn macht
Was kaufen wir uns denn mit Sachen, die wir nicht brauchen? Ständig neue, billige Kleidung, die man nicht braucht. Unzählige Stifte, süße Kettchen, Schmuck. Notizbücher und -hefte, und Kleidung. Immer wieder Kleidung. Sekunden von Glück, nur kurze Momente. Ich bin mir nicht sicher, ob die es wert sind. Ob dieses Glück eine Daseinsberechtigung hat.
Manche Dinge haben sie jedoch:
Die Kunst, schöne Bilder, die mich jeden Tag aufs Neue erfreuen; eine Anlage, um Musik zu machen, die mir Nachmittage voll Inspiration schenkt. Malwerkzeug und Farben, ein Musikinstrument. Ein Volleyball und Tanzschuhe, weil man Walzer eben nicht auf Gummisohlen tanzen kann. Es gibt genug wunderbare Sachen, die ich zu einem glücklichen erfüllten Leben brauchen kann, gar keine Frage. Ich bin gar nicht gegen das Kaufen von Dingen. Aber lass uns doch einfach nur so viel kaufen, wie wir brauchen.
Ich habe nur eine Aufgabe für dich. Stelle dich in Gedanken an diesen Text das nächste Mal eine Minute vor ein Geschäft deiner Wahl, nur von außen. (Eines mit großen Schaufenstern.) Schau hinein, in all die Regale und Gänge voll von Dingen, die Menschen kaufen. Von Dingen, die einander teilweise so ähnlich sind, dass mir keiner mehr erklären kann, Entscheidungsschwierigkeiten seien Charaktersache. Heute nicht mehr. Vor diesen Regalen weiß keiner mehr, was er eigentlich braucht und kaufen “soll”. Komm nach deinem Ausflug wieder hierher und erkläre mir, wie es funktioniert, das ganze Kaufen. Wie diese Geschäfte überleben würden, wenn jeder Mensch nur das kaufen würde, was er wirklich braucht.
Und was im Falle des Flugzeugs nur eine nette Metapher war, wird in diesem Fall zu einer traurigen Wahrheit:
Es kann eigentlich gar nicht funktionieren.